Was ich von meinen chinesischen Kollegen gelernt habe

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Ich habe fast zwanzig Jahre mit wundervollen chinesischen Kollegen zusammengearbeitet – eine tolle Zeit, die mich sehr geprägt hat, und die ich nicht missen möchte. Ich habe unglaublich viel Wissen über die TCM gelernt, und hunderte von praktischen Tipps bekommen, aber ich habe auch ganz viel über die chinesische Mentalität gelernt, wie man das Leben etwas leichter nehmen kann.

Ich habe von 2001 bis 2020 an der Asklepios Klinik Wiesbaden die Abteilung für Traditionelle Chinesische Medizin geleitet. Als ich das 2001 angefangen habe, hatte ich zwei kleine Kinder und war gefühlt im Dauerstress – nachts zu wenig Schlaf, tagsüber war jede Minute ausgefüllt. Entsprechend habe ich mich auch oft gefühlt - wenig Energie und ständig angespannt.

Ziemlich zu Beginn meiner Tätigkeit, an einem sehr vollen Praxistag, habe ich meine chinesische Kollegin gesucht. Sie saß GANZ IN RUHE in ihrem Zimmer und TRANK EINE TASSE TEE. Ich muss dazu sagen, dass ich damals die letzten zehn Jahre meiner Berufstätigkeit eigentlich NIE beim Arbeiten eine Tasse Tee getrunken habe. In der Chirurgie nicht, in der Orthopädie nicht, im Nachtdienst nicht und im Notdienst schon gar nicht. ICH WAR FASSUNGSLOS. Und dann sagt sie zu mir, seelenruhig und ganz freundlich „weißt du Kerstin, aus einem leeren Krug habe ich nichts zu geben“.

Kurz danach ist sie übrigens mit ihrer charmanten chinesischen Art zum nächsten Patienten gegangen, hat ihm versichert, wie sehr sie sich freut, ihn heute zu sehen, hat sich wortreich für die kurze Verzögerung entschuldigt und hat heiter und gut gelaunt weiter gearbeitet.

Das hatte ich beim Arbeiten noch nie erlebt, und überhaupt haben viele Ärzte und auch Pflegepersonal leider einen solchen Arbeitsdruck, dass sie eine ganz schlechte Selbstfürsorge haben. Auf jeden Fall hat sich mir das so eingebrannt, dass ich erstens seither fast täglich eine Tasse Tee trinke – IN ALLER RUHE – und dass ich immer darauf achte, wann „mein Krug leer ist“ – für mich ein schönes Bild.

Es gab für mich noch unendlich viele Aha- Momente, aber dafür wäre der Eintrag zu lang. Einige Zitate meiner Kollegen haben tatsächlich sogar unseren Familienfrieden verbessert. So sagte eine meiner Kolleginnen immer dann, wenn ihr etwas so restlos gegen den Strich ging, würdevoll und freundlich, „naja, das ist einfach eine andere Methode“ – das passt immer und überall. Der Geschirrspüler ist falsch eingeräumt? Das ist eine andere Methode! „Anders“ wertet nicht. Man könnte auch sagen „bescheuert, doof, komplett daneben“ - aber „anders“? „Anders“ ist völlig neutral und entschärft sofort jeden Konflikt.

Wie oft habe ich gehört, wenn einer meiner Kollegen unsere Patienten beruhigt hat: „aber machen Sie sich doch nicht so einen Stress – sie können das doch sowieso nicht ändern“ – auch das ist sehr chinesisch. Dinge einfach hinzunehmen.

Als einer meiner Söhne in der Schule eine Ehrenrunde gedreht, hat meine Kollegin das trocken kommentiert mit, „ach weißt du Kerstin, das Gras wächst doch nicht schneller, wenn man daran zieht“ – mittlerweile steht genau dieser Sohn sehr erfolgreich im Berufsleben und ist mit sich und seinem Leben völlig im Reinen. Sie hatte also völlig Recht. Auch das habe ich mir angewöhnt, Gras einfach wachsen zu lassen. Das nimmt unglaublich viel Tempo aus dem Alltag. Dinge reifen zu lassen. Ganz in Ruhe.

Als sich mein ehemaliger Arbeitgeber dazu entschlossen hat, unsere Abteilung nach 20 jährigem Bestehen einfach zu schließen, da war die erste Reaktion meiner Kollegin „Kerstin, wenn eine Türe sich schließt, dann öffnet sich IMMER eine neue“ – und das ist für uns alle wirklich genauso eingetreten. Auch wieder eine sehr chinesische Einstellung. So wie das Leben kommt, so kommt es. Darum wird einfach keine große Sache gemacht. Für irgendetwas wird es schon gut sein.....

Eine Eigenschaft, die ich bei allen chinesischen Kollegen, die ich in dieser langen Zeit kennenlernen durfte, sehr geschätzt habe, ist eine gewisse Heiterkeit und Leichtigkeit im Alltag, aber auch eine große Dankbarkeit. Viel zu tun? Wie schön, arbeitslos wäre doch schlimm, oder? Es regnet seit Tagen? Aber das ist doch gut für die Natur. Der Patient war unmöglich? Nein, der hat einfach ganz viel Stress und ist deswegen vermutlich schlecht gelaunt.

Diese unglaubliche Freude im Alltag, das fand ich immer sehr schön. „Heute ist so ein wunderbarer Tag“. „Wie schön, wir sind alle gesund“. „Corona? Das geht vorbei, in Wuhan ist es schlimmer“. „unglaublich, was für nette Patienten wir heute hatten“. „Kerstin, warum jammern die Deutschen eigentlich so viel? Euch geht es doch so gut hier“. „Das Leben ist einfach schön“.

Photo by Cherry Lin on Unsplash

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